Die Anerkennung der Rechte der Natur: Ein globaler Paradigmenwechsel

Analyse

Seit Tausenden von Jahren halten indigene und lokale Gemeinschaften weltweit Überlieferungen und Traditionen aufrecht, die das Zusammenleben von Mensch und Natur in Einklang bringen. Über Jahrhunderte hinweg betrachteten sich Frauen, indigene und lokale Gemeinschaften als Hüterinnen der Natur, denen das Wohlergehen der Natur anvertraut war. Diese Traditionen wurden von einer Generation zur nächsten weitergegeben, um die Umwelt zu schützen und ihr Überleben zu sichern.

Zwei Fotos stehen im Wald auf dem Boden, dabei handelt es sich um Montha Chukaew und Pranee Boonrat, Mitglieder der Southern Peasants’ Federation of Thailand, die im Jahr 2012 ermordet wurden.
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Montha Chukaew und Pranee Boonrat, Mitglieder der Southern Peasants’ Federation of Thailand, ermordet im Jahr 2012.

Mensch-Natur-Beziehungen: Der Übergang von Traditionen zu Gesetzen

Der Übergang vom Gewohnheitsrecht zu modernen Rechtssystemen bedeutet einen tiefgreifenden Wandel in unserer Beziehung zur Natur. Mit dem Beginn des Kapitalismus und der Industrialisierung wurden Menschen von Hüter:innen mit Fürsorgepflichten zu Eigentümer:innen mit dem Recht, die Umwelt zu kontrollieren, auszubeuten und sogar zu schädigen. Im Zuge dieses Wandels wurden uralte Überlieferungen durch moderne Gesetze ersetzt, die die Vorstellung von Natur als Eigentum aufrechterhalten.

Heute setzt sich eine wachsende Bewegung für die Anerkennung der ‚Rechte der Natur‘ ein. Dies stellt einen Paradigmenwechsel im Umweltschutz dar. Das Konzept der ‚Rechte der (Mutter) Natur’ ist mehr als nur ein Begriff – es verkörpert das Bestreben, uralte Weisheiten wieder in den modernen Rechtsrahmen zu integrieren. Die Rechte der Natur sind eine Möglichkeit, der Natur rechtliches Gehör zu verschaffen, sie zur Klägerin werden zu lassen und ihr das Recht auf Wiedergutmachung zu gewähren.

Dieser Ansatz weicht von der derzeitigen konventionellen Sichtweise ab: Statt menschliche Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, erkennt er Menschen als integralen Bestandteil der Natur an.

Rechte der Natur heben den inhärenten Wert allen Lebens hervor und unterstreichen die Wechselseitigkeit in unserem Verhältnis zur Natur.

Internationale Rahmen: Die Entwicklung des Umweltrechts

Auf der internationalen Bühne hat die Anerkennung der Rechte der Natur große Fortschritte gemacht. Im Jahr 1982 wurde in der World Charter for Nature der einzigartige Wert jeder Lebensform betont, unabhängig von ihrem Wert für den Menschen. Diese bahnbrechende Erklärung legte den Grundstein für spätere Entwicklungen, darunter die Universal Declaration for the Rights of Mother Earth(UNDMRE) im Jahr 2010. Die UN-Umweltversammlung im Jahr 2014 hat die Bedeutung der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit im Umweltbereich weiter unterstrichen.

Während diese internationalen Mechanismen die Notwendigkeit des Umweltschutzes hervorheben, gewähren sie der Natur keine Rechtsansprüche gegen Ausbeutung. Marktlogiken und das Menschenrecht auf Entwicklung stehen oft im Vordergrund, obwohl viele Aktivitäten, die als ‚Entwicklung‘ definiert werden, für Mensch und Umwelt verheerend sind.

Blick in eine prächtige Baumkrone.

Rechte der Natur

Unsere Beziehung zur Natur ist massiv gestört. Um Mensch und Umwelt nachhaltig zu schützen, brauchen wir neue Ansätze – wie das Verleihen von Rechten an die Natur.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Rechte der Natur, das zeigt, wie sich dieser Ansatz praktisch umsetzen lässt und welche Chancen er bietet. ▶ Zum Dossier Rechte der Natur.


Wegweisende Beispiele für Rechte der Natur in der Legislative

Mehrere Länder haben konkrete Schritte zur Anerkennung der Rechte der Natur unternommen. Ecuador war 2008 das erste Land der Welt, das der Natur in seiner Verfassung solche Rechte einräumte, ihr das Recht auf Existenz sowie auf die Regeneration ihrer Lebenszyklen und Strukturen zugestand. Außerdem kann jede:r Bürger:in, unabhängig von ihrer Verbindung zum betroffenen Teil der Natur, vor Gericht gehen, um dieses zu schützen. In Bolivien wurde 2010 das ‚Gesetz über die Rechte der Mutter Erde‘ eingeführt, in dem sieben grundlegende Rechte der Natur anerkannt werden. In Uganda räumt das nationale Umweltgesetz von 2019 der Natur das Recht ein, zu existieren, zu bestehen, ihre Lebenszyklen und Strukturen zu erhalten und zu regenerieren. Neuseeland hingegen verleiht einzelnen natürlichen Elementen juristischen Personenstatus, wie etwa im Fall des Te Urewera Nationalparks und des Whanganui River.

Herausforderungen und Debatten

Trotz der rechtlichen Anerkennung der Rechte der Natur bleiben zahlreiche Herausforderungen bestehen. In Ländern wie Ecuador und Bolivien blühen die Rohstoffindustrie und mächtige Konzerne weiter auf und bedrohen die Umwelt unter dem Deckmantel der Entwicklung – und das, obwohl viele dieser hochgradig ausbeuterischen Aktivitäten offensichtlich niemandem außer den Gewinner:innen des Kapitalismus zugute kommen: Großunternehmen, Investor:innen, korrupten Regierungsbeamt:innen und Eliten.

Nichtsdestotrotz besteht ein echtes Dilemma, wenn es darum geht, ein Gleichgewicht zwischen menschlicher Entwicklung und der Achtung der Rechte der Natur herzustellen. Dies bleibt eine gewaltige Aufgabe für die Gerichte.

Selbst in Ländern mit fortschrittlicheren Gesetzgebungen wie Kolumbien stellt die Durchsetzung von Urteilen trotz juristischer Siege eine schwierige Aufgabe dar.

Auf der anderen Seite besteht nach wie vor die große Herausforderung der Anerkennung: Viele Länder haben die Rechte der Natur noch nicht formell anerkannt und geben menschlichen Interessen immer noch den Vorrang vor ökologischen Erwägungen. So scheinen Länder wie Thailand oft eher geneigt zu sein, Genehmigungen für die Bergbauindustrie (z. B. Kali-Bergbau) zu erteilen, als die Rechte der Natur gesetzlich zu verankern.

Die Gefahren, denen diejenigen ausgesetzt sind, die sich für die Rechte der Natur einsetzen, sind ein deutliches Zeichen für den weitreichenden Widerstand gegen einen solchen Wandel: Im Jahr 2022 wurden weltweit 177 Umweltaktivisten getötet, die meisten von ihnen in Lateinamerika. In Thailand beleuchtet eine von Protection International organisierte Ausstellung und Dokumentation mit dem Titel ‚For Those Who Died Trying' die Geschichten von über 62 Menschenrechtsverteidiger:innen, die furchtlos die Korruption aufgedeckt, sich für faire Landrechte eingesetzt, die Umwelt vor illegaler Abholzung und ‚Landgrabbing‘ geschützt und sich gegen schlecht durchdachte Entwicklungsprojekte gewehrt haben.

Weitere Debatten und Initiativen

Neben den oben genannten Punkten bleiben viele weitere Fragen ungelöst: Zum Beispiel, wenn es um die Vormundschaft und Vertretung der Natur in Rechtsfällen geht, um eine eindeutige Sprache in den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Rechte der Natur, sowie um die offensichtliche Notwendigkeit, widersprüchliche Rechte zu harmonisieren – vor allem, wenn menschliche Entwicklung und Umweltschutz zu kollidieren scheinen. Darüber hinaus bleibt offen, welche Rolle die Natur in der internationalen Entwicklung spielen kann, und wie die Wirksamkeit der Rechte der Natur innerhalb der bestehenden zentralisierten politischen und rechtlichen Systeme garantiert werden kann.

Die Frage um den Status einer juristischen Person und die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, gewinnt weltweit in den Rechtswissenschaften an Bedeutung. Interessant ist, dass dies vor allem in Ländern geschieht, in denen indigene und lokale Bevölkerungen noch immer fürsorgliche Beziehungen zur Natur haben und eng mit Gewohnheitsrechten und Traditionen verbunden sind. Diese Bevölkerungen haben darüber hinaus sehr unmittelbare Erfahrungen mit Umweltzerstörung und Klimawandel.

Länder, die bei der Verankerung von Naturrechten in ihren Gesetzen und Verfassungen Pionierarbeit leisten, erarbeiten diese Konzepte auch als Beispiel für andere Länder.

Fazit

Die weltweite Anerkennung der Rechte der Natur stellt einen bedeutenden Paradigmenwechsel in der Art und Weise dar, wie wir die Umwelt wahrnehmen und mit ihr umgehen. Sie ist ein entscheidender Schritt zur Wiederherstellung der harmonischen Beziehung zwischen Mensch und Natur, die unsere Vorfahren jahrhundertelang praktiziert haben. Es muss unbedingt anerkannt werden, dass wir trotz bemerkenswerter Fortschritte immer noch vor großen Herausforderungen stehen – insbesondere in einer Periode politischer Instabilität, wirtschaftlicher Schwierigkeiten, Umweltzerstörung und der Dominanz autoritärer Regime in vielen Teilen der Welt.

Das Gleichgewicht zwischen menschlicher Entwicklung und dem Schutz der Umwelt ist ein wichtiges und dringendes Anliegen. Nun, da die Welt mit der dringenden Notwendigkeit konfrontiert ist, die Klimakrise und die ökologischen Katastrophen zu bewältigen, kann das Konzept der Gewährung von Rechten an der Natur einen gangbaren Weg in eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft darstellen.


Aus dem Englischen übersetzt von Imke Horstmannshoff.

Links & Literatur